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Irgendwo gibt es ihn sicherlich, den Ort, in dem sich die Geschichte der USA mit all ihrer Gewalt verdichtet. Aber Fargo? Diese 124.662-Einwohner-Stadt in North Dakota? In ihr ein pars pro toto fürs ganze Land zu erkennen, darauf ist wahrscheinlich noch niemand gekommen. Zu skurril sind die Figuren und ihre Schicksale, die erst die Coen-Brüder 1996 in ihrem Film »Fargo« vorstellten, dann Autor und Showrunner Noah Hawley seit 2014 in seiner gleichnamigen Anthologieserie weiterspinnt.
Wenn es etwas Abstraktes gibt, was »Fargo« repräsentiert, ist es: Menschenfeindlichkeit, noch dazu in einer unangenehmen protestantischen Variante. Ob Auftragskiller oder Kleinbürger, der von ein bisschen mehr Geld, Macht oder Sex träumte: Am Ende erwartete sie stets ein unwürdiger Tod, wahlweise in der Gefriertruhe oder direkt im Häcksler. Nur wer sich mit heißer Schokolade und ehelichem Geschlechtsverkehr als den größten irdischen Verheißungen begnügte, kam halbwegs ungeschoren davon.
In Staffel 4, die auf der Streamingplattform Joyn statt wie gewohnt auf Netflix verfügbar ist, ist nun aber so gut wie alles anders. Die Tode, die gestorben werden, sind zwar so bizarr wie gewohnt (unter anderem darf ein Tornado sein Werk verrichten). Doch die historische Blende ist so weit wie noch nie aufgerissen: Nichts weniger als die amerikanische Geschichte an sich versucht die Serie jetzt einzufangen. Das Ergebnis ist so merkwürdig, wie es »Fargo« noch nie war.
Gemetzel folgt auf Gemetzel
Diese Geschichte, so macht es bereits die rasant verdichtete Anfangsszene klar, ist für Noah Hawley eine Abfolge tribalistischer Gemetzel. Erst ist es ein jüdisches Kartell, das 1920 die Geschäfte von Kansas City, dem Hauptspielort dieser Staffel, kontrolliert. Dann kommen durch einen Verrat die Iren an die Macht. Denen machen wiederum die Italiener ihren Platz in der Stadt streitig, bis sie 1949 selbst von einer afroamerikanischen Gang herausgefordert werden. An diesem Punkt setzt nun die Handlung der Staffel ein.
Der Anführer der Italiener, Josto Fadda, wird dank einer hübsch augenzwinkernden Besetzungsidee von Jason Schwartzman gespielt, dem Neffen von Francis Ford Coppola und damit selbst Teil eines italienischen (Kino-)Clans. Noch inspirierter ist aber die Wahl von Chris Rock als Chef der schwarzen Gang, Loy Cannon. Rock, sehr selten außerhalb von Comedy zu sehen, hat die Rolle bereits als die beste bezeichnet, die er bislang spielen durfte.
Cannons Duell mit Fadda um die Vorherrschaft in Kansas City ist das bestimmende Moment dieser Staffel. Es wird sehr bleihaltig, aber auch sehr wortreich ausgetragen, denn jeder Kampf in diesem auf elf Folgen gestreckten Stellungskrieg ist auch ein Kampf um, wie es Joe Biden sagen würde, die Seele Amerikas, und als solcher wird auch jeder dieser Kämpfe mit einem ausführlichen Monolog erklärt.
Von der Gesellschaft beschädigt
Die Zuschauersympathien dürften dabei im Gegensatz zu den Territorien schnell verteilt sein. Jason Schwartzman darf zwar wie üblich seinen putzigen Witz verströmen, doch Chris Rock hat Gravitas auf seiner Seite. Mit weit aufgerissenen Augen und einer schwungvoll in den Himmel ondulierten Haartolle drückt er Staunen über und Distanz zu der Welt aus, in der er sich bewegt. Zwar herrscht er ähnlich rücksichtslos wie seine Konkurrenten, in den kritischsten Momenten kann er jedoch nur reagieren statt agieren.
So kann sich seine Figur so einigen schwerwiegenden moralischen Dilemmata entziehen, was kein Zufall ist, denn Cannon stellt die erste nicht weiße Hauptfigur im »Fargo«-Kosmos dar und ist als solche auch deutlich anders konstruiert. Wo sich andere Figuren persönlich kompromittieren – etwa durch Habgier oder Wollust –, wird Cannon von der Gesellschaft beschädigt.
Überdeutlich zeigt sich dies, als er mit der Idee zur ersten Kreditkarte bei diversen Bankvorständen vorstellig wird und ein ums andere Mal abgewiesen wird. Monate später fährt er an einer Plakatwand vorbei, auf der eine der Banken, die er besucht hat, mit der Erfindung der Kreditkarte wirbt. Auch wenn der Gangster Cannon den rechten Weg einschlagen wollte, so wird ihm und den Zuschauern klar, wäre er ihm durch die rassistische Mehrheitsgesellschaft verstellt.
In dem Jahr, in dem »Black lives matter!« zum weltweiten Aufschrei wurde, erscheint diese für »Fargo«-Verhältnisse ungewöhnliche moralische Eindeutigkeit grundlegend angemessen. Doch Hawley überdreht die Kontraste ins nuancenlos Grelle. Das unbedingt Böse lässt er nämlich durch die weißeste Figur in diesem Staffelensemble verkörpern. Shootingstar Jessie Buckley (»I'm Thinking of Ending Things«), rotes Haar, bleiche Haut, irgendwie nordischer Abstammung, spielt die psychopathische Krankenschwester Oraetta, die ihre Patienten gern mit ein paar Tropfen Gift ins Jenseits befördert. Ihr Nachname: Mayflower, so wie das Schiff, das einst weiße Siedler nach Nordamerika brachte.
Die Grenzen der Neuerfindung
Wie so viele Figuren und deren großartige Darsteller, darunter Ben Wishaw und Timothy Oliphant, hat Oraetta Mayflower allerdings keine Bedeutung für die Geschichte. Sie ist schlicht groteske Staffa*ge. Damit verkörpert sie zugleich etwas sehr Typisches aus den Filmen der Coen-Brüder, die auch in dieser Staffel wichtiger Bezugspunkt bleiben: nämlich den Hang, charakterlichen Defekten und Perversionen auch einen körperlichen Ausdruck zu verleihen.
Ihren überschminkten Mund verzerrt Buckley stets zu einem schiefen Grinsen, dazu trippelt sie in enervierenden Mäuseschritten. Ihr männliches Pendant in der karikaturhaften Überzeichnung ist Salvatore Esposito: Als der mit Abstand brutalste der Mafiosi ist er auch der mit Abstand dickste von ihnen. Fast schon schmerzhaft zeigen diese zwei Figuren die Grenzen der Neuerfindung von »Fargo« als all American epic auf, denn mit der ernsten Würde von Cannon gehen sie einfach nicht zusammen.
Vielleicht schließt sich mit dieser Staffel aber auch ein Kreis, denn sie ist die erste, deren Geschichte nicht als Serie funktioniert, sondern am besten auf Filmlänge verdichtet wäre. »Fargo« als Film: Das wäre doch mal was Neues.
»Fargo«, Staffeln 1 bis 4 sind auf Joyn verfügbar